Zeit heilt nicht alle Wunden

Zeit heilt nicht alle Wunden

Otto-Hahn-Medaillenträger Dr. Oskar Staufer über sein Forschungsprojekt in der Doktorarbeit

Die Haut ist unser größtes Organ und schützt uns vor infektiösen Keimen. Doch was tun, wenn durch Krankheit oder Unfall Wunden auch nach langer Zeit nicht heilen? Einen neuen Therapieansatz bringt die synthetische Biologie, bei dem künstliche Imitate lebender Strukturen die Wundheilung ankurbeln.

Ein Schnitt am Finger in der Küche ist schnell passiert. Und auch bei der Gartenarbeit schürfen wir uns immer wieder an Steinen oder Ästen auf. Wunden gehören zu unserem Alltag dazu, doch unser Körper ist ein wahrer Meister darin unsere schützende Haut zu regenerieren. Meist dauert es nur wenige Tage – Zeit heilt alle Wunden. Doch bei über 800.000 Menschen in Deutschland funktioniert dieser Heilungsprozess viel langsamer oder gar nicht. Chronische Wundheilungsstörungen betreffen circa 1% der Gesamtbevölkerung und treten meist nach Operationen auf. Auch Diabetiker leiden oft unter offenen Wunden an Beinen und Füßen. Weil das geradezu eine Eintrittskarte für Keime ist, zielen die meisten Therapien darauf ab, die Wunde so lange sauber zu halten, bis der Körper eventuell in der Lage ist sie von selbst zu schließen. Trotzdem folgt nach langem Krankheitsverlauf oft eine Amputation. Für Betroffene heilt die Zeit keine Wunden, vielmehr ist Wundheilung für sie ein Wettlauf gegen die Zeit. Daher suchen Wissenschaftler*innen dringend innovative Therapieansätze. Sie sollen dem Körper einen Zeitvorsprung verschaffen und dem Heilungsprozess auf die Sprünge helfen.

 

Die vollständige Heilung einer Wunde ist kein einfacher Prozess. Es braucht viele verknüpfte Vorgänge, um eine schützende Hautschicht zu regenerieren. So müssen neue Blutgefäße gebildet, Bindegewebe neu geformt und das Immunsystem aktiviert werden, um infektiöse Keime abzuwehren. Erst nach all diesen Schritten versiegelt eine neue Hautschicht die Wunde - wie eine Ölschicht einen neuen Parkettboden. Unterschiedlichste Zellen müssen dabei zusammenarbeiten. Die Absprache zwischen den Zellen entscheidet, ob die Wundheilung gelingt oder nicht. Bei Wundheilungsstörungen ist diese komplexe Kommunikation gestört und die Zellen in der Haut können sich nicht mehr koordinieren. Eine erfolgreiche Therapie muss also auch einen gesunden Kommunikationsprozess wiederherstellen und so die Hautzellen darüber informieren, wie die Wunde zu schließen ist.

 

Zellen kommunizieren auf verschiedenen Wegen miteinander. Erst vor wenigen Jahren haben Wissenschaftler*innen einen Mechanismus entdeckt, der als Revolution im Forschungsfeld gilt – sogenannte Exosome. Sie sind kleine fettumhüllte Tropfen, die Zellen als Paketboten dienen. Exosome können Biomoleküle als Fracht mit ihrer schützenden Fetthülle zwischen einzelnen Zellen hin und her transportieren. Die Pakete werden mit einer Art Adresse versehen und können so ihre Zielzelle erreichen. Es ist eine biologische Variante der kontaktlosen Übergabe. Dabei übertragen Exosome viele unterschiedliche Güter, von Energielieferanten wie Zucker bis hin zu genetischem Material. Das Besondere dabei: sie aktivieren heilende Funktionen in ihren Zielzellen. Deshalb spielen Exosome auch bei der Wundheilung eine wichtige Rolle. Während des Heilungsprozesses werden in der Wunde bestimmte Stammzellen aktiviert, welche Exosome abgeben. Sie können den Hautzellen einen Befehl zum Verschluss erteilen. Die Exosomen sind hierbei der Vermittler zwischen Stammzellen und Hautzellen. Leider ist es sehr aufwendig, Exosomen in einer Qualität zu gewinnen, die ihre Anwendung in Therapien erlaubt. Außerdem ist über ihre Funktionsweise zu wenig bekannt, um eine sichere Therapie zu ermöglichen. Exosome bergen also ein großes Potenzial für die Wundheilungstherapie, das aber noch nicht voll ausgeschöpft werden kann.

 

Das Problem dabei ist die hohe Komplexität von Exosomen. Sie bestehen aus tausenden von molekularen Einzelteilen, von denen wir oft Struktur und Funktion noch nicht verstehen. Wäre es möglich simplere Formen dieser Exosomen künstlich herzustellen, könnten wir nicht nur besser verstehen wie sie funktionieren, sondern sie auch in der Therapie chronischer Wundheilungsstörungen einsetzen. Doch wie kann diese hohe Komplexität aufgelöst werden?

 

Im vergangenen Jahrzehnt ist um diese Fragestellung herum ein neues Forschungsfeld entstanden, das versucht Ordnung in das komplexe Molekülchaos des Lebens zu bringen. Weil in diesem Forschungsfeld künstliche Formen lebender Strukturen konstruiert werden, wird es als “synthetische Biologie“ bezeichnet. In der synthetischen Biologie wollen Forscher*innen Zellen und die in ihnen ablaufenden Prozesse auf das Wesentliche reduzieren. Am Ende sollte eine funktionsfähige und künstliche Kopie stehen, die anhand eines natürlichen Bauplans konstruiert wurde aber weniger komplex ist. Synthetische Biologie – das ist der Einzug des Minimalismus in die Lebenswissenschaften. Sie verfolgt einen grundlegend anderen Ansatz als die anderen Lebenswissenschaften. Das gewöhnliche Vorgehen der Biologie besteht meist darin, lebende Systeme zunächst zu beobachten, dann zu beschreiben und darauf basierend zu verstehen. In der synthetischen Biologie arbeiten Wissenschaftler*innen wie Ingenieure*innen - sie versuchen Lebensprozesse durch Nachbau zu verstehen. Ein innovativer Ansatz, bei dem Design und Konstruktion dem Verständnis voran gehen.

 

Das Ziel meiner Doktorarbeit war es, mit den Mitteln der synthetischen Biologie künstliche Strukturen zu erschaffen, die wie natürlich Exosome funktionieren. Hiermit wollte ich in die Kommunikation zwischen Hautzellen eingreifen. Synthetisch hergestellte Exosome, die nur die für die Wundheilung wichtige Bestandteile enthalten, können im Vergleich zur natürlichen Exosomen einfacher und sicherer eingesetzt werden. Doch als Molekül-Ingenieur, griff ich nicht auf Akkuschrauber, Hammer und Co. zurück. Exosome bestehen aus Millionen von kleinsten molekularen Bestandteilen, die alle in der richtigen Form und zur richtigen Zeit zusammengebracht werden müssen. Ich entwickelte daher eine mikroskopisch kleine Produktionslinie, um die einzelnen Bestandteile kontrolliert zusammenbauen zu können. Der Grundriss für mein molekulares Bauprojekt waren die natürlichen Exosomen aus den Stammzellen in der Haut. Bei natürlichen Exosomen formen kleineste Fetttröpfchen das Grundgerüst. Als tragende Wände für meine künstlichen Exosomen stellte ich daher durch ein Emulsifikationsverfahren ebenfalls kleine Tropfen her. Diese Tropfen dienten als Halterung und Hülle für weitere Bestandteile wie Proteine und Nukleinsäuren. Welche Komponenten ich verwenden musste, konnte ich in meinem bioinspirierten Bauplan, den natürlichen Exosomen, einfach nachlesen. Durch geschicktes Kombinieren der einzelnen bekannten Bestandteile versuchte ich dann herauszufinden, welche wirklich essenziell für die Funktion der wundheilenden Exosomen sind.

 

Ich produzierte Milliarden, ja vielleicht sogar Billionen, kleinster Tröpfchen und fügte Stück für Stück die einzelnen Komponenten zusammen. Fette, Proteine und Co., ein Baustein nach dem anderen fügte ich in die Tropfen ein. Runde um Runde optimierte ich die Produktionsschritte. Nach fast zwei Jahren war es so weit. Unter meinem Mikroskop lagen Tröpfchen, die täuschend echt zu natürlichen Exosomen aussahen. Aus künstlichen Bausteinen hatte ich Strukturen erschaffen, die mit Hautzellen interagieren und ihnen so ein Signal von Stammzellen vortäuschen konnten. Struktur und Funktion schienen zu stimmen. Doch hatten sie wundheilende Eigenschaften? Das konnte ich nur an einer echten Wunde testen. Hierzu verwendete ich menschliche Spenderhaut. Solche Häute können im Labor in Kulturschalen am Leben gehalten werden. Den Häuten fügte ich kleine kreisförmige Wunden zu und trug auf diese meine künstliche Exosomen-Lotion auf. Dann begann der Wettlauf mit der Zeit. Würden sich die behandelten Wunden schneller schließen?

 

Hierzu maß ich nach zwei Tagen die Größe der Wunden aus. Bei Häuten, die ich nicht behandelt hatte, konnte ich kaum eine Heilung messen. Die Wunde war immer noch offen. Doch Wunden, auf die ich meinen künstlichen Exosomen aufgetragen hatte, waren schon fast wieder geschlossen. Ein voller Erfolg! Die Exosomen, die ich aus Stammzellen nachgebaut hatte, funktionierten auch in therapeutischer Hinsicht. Sie kurbelten den Heilungsprozess in den Hautmodellen an und schufen so einen deutlichen Zeitvorsprung. Und im Gegensatz zu den sehr komplexen natürlichen Exosomen hatte ich eine minimale und doch funktionsfähig Variante gebaut. Noch besser, wie ein Ingenieur kannte ich im Detail ihren Aufbau und Zusammensetzung: drei Proteinen, neun Arten von Fetten und sechs kleine regulatorische Nukleinsäuren. Mehr brauchte es nicht, um den künstlichen Fetttropfen wundheilende Eigenschaften zu verleihen.

 

Die synthetische Biologie versteht lebende Strukturen auch als Bauplan. Der Komplexität des Lebens kann durch intelligentes Design entgegengetreten werden und biologische Prozesse werden somit systematisch untersucht. Das verhilft zu einem neuen Verständnis und ermöglicht besser kontrollierbare Therapieansätze. Eine komplett neue Strategie, die zum Beispiel dann angewendet werden kann, wenn allein die Zeit nicht mehr alle Wunde heilt. So kann die synthetische Biologie Lösungen aus der Natur für biomedizinische Fragestellung zur Anwendung bringen.

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